Der „leise Terror“ des MfS gegen Jürgen Fuchs

„Eigentlich wollte ich einmal nur Gedichte schreiben, vielleicht über die Liebe, die Natur. Wichtigeres drängte sich vor.“

– Jürgen Fuchs

Jürgen Fuchs 1990

Jürgen Fuchs 1990 (Foto: Kai Ammon, via Wikimedia Commons)

Der 1950 in Reichenbach geborene Lyriker und Prosa-Autor Jürgen Fuchs wurde bereits seit der 11. Klasse vom Staatssicherheitsdienst wegen seiner kritischen Äußerungen überwacht. Nach einem gemeinsamen Auftritt mit Bettina Wegner und Gerulf Pannach, dem Texter der Band Renft, wurde er aus der SED ausgeschlossen. Kurz vor dem Abschluss – die Diplomarbeit war schon mit „sehr gut“ bewertet worden – wurde Jürgen Fuchs wegen seiner Gedichte und Prosawerke vom Disziplinarausschuss der Friedrich-Schiller-Universität Jena zum Ausschluss von allen Universitäten, Hoch- und Fachschulen der DDR verurteilt und politisch zwangsexmatrikuliert. Nach Protesten gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns wird er am 19. November 1976 verhaftet und muss eine neunmonatige Haftstrafe in Berlin Hohenschönhausen verbüßen, bevor er zur Ausreise nach West-Berlin gezwungen und zahlreichen Zersetzungsmaßnahmen ausgesetzt wird.1

„Legen Sie sich später nicht mit uns an. Wir finden Sie überall. Auch im Westen. Autounfälle gibt es überall. […] Sie meinen, das ist eine Drohung, na klar, was denn sonst.“2

Von 1968 bis Ende 1989 wurde Jürgen Fuchs von verschiedenen MfS-Diensteinheiten (inklusive der HV A) in den Operativen Vorgängen (OV) bzw. Operativen Personenkontrollen (OPK) „Pegasus“, „Revisionist“, „Spinne“ und „Weinberg“ sowie dem Zentralen Operativen Vorgang (ZOV) „Opponent“ bearbeitet.3 Nach Einschätzung des MfS galt Jürgen Fuchs Anfang der achtziger Jahre als einer der gefährlichsten DDR-Staatsfeinde in West-Berlin. Im Mai 1982 erließ man gegen ihn sogar einen Haftbefehl, obwohl Fuchs längst Bundesbürger war. Das dazu verhängte internationale „Fahndungsersuchen – Festnahme“, eigenhändig unterschrieben von Erich Mielke, galt an allen Grenzübergängen in die DDR und für die sozialistischen Staaten. Nach seiner Akteneinsicht war Fuchs sicher: Er wäre nicht zurückgekommen.4

Hierzu dessen Ehefrau Lilo Fuchs:

„Die ersten Jahre haben wir beide instinktiv die Transitstrecke gemieden, weil wir merkten, dass die [das MfS] uns weiter bearbeiteten. Wir mussten immer fliegen, wenn wir aus West-Berlin rauswollten [sic!], und die Flüge waren ziemlich teuer.“5

Doch noch anderen Maßnahmen der Staatssicherheit sah sich Jürgen Fuchs wie auch seine Familie innerhalb und außerhalb der DDR ausgesetzt. Dabei war der Erfindungsreichtum des MfS zum Verunsichern und Zersetzen unerschöpflich.

Anfangs erhielt Jürgen Fuchs kontinuierliche Anrufe in den Nachtstunden, ohne dass sich jemand meldete. Am Tag wurden ihm eine Vielzahl von Bestellungen diverser Zeitungen, Zeitschriften und Prospekte zugesandt, welche er angeblich in seinem Namen aufgegeben hatte. Darunter auch Abonnements, die zur Kompromittierung von Fuchs geeignet waren.6 So fanden sich bspw. in Fuchs’ Fahrradkorb verschiedene Erotikmagazine, auf denen seine Adresse stand; gleichzeitig kursierte in der Nachbarschaft das Gerücht, die Familie würde ein Bordell in ihrer Wohnung betreiben.7 Mehrfach bestellte man zudem Taxis und Notdienste (Schlüssel-, Abfluss- oder Abschleppnotdienste) zur Wohnung von Fuchs oder vereinbarte Besuche von Dienstleistungsunternehmen und anderen Einrichtungen zu unterschiedlichen Tageszeiten bei der Familie.8 So rückte die Autopresse Zech an, sie käme, um den Totalschaden abzuholen; Ungezieferbekämpfer standen mit ihren Sprühgeräten vor der Tür, sie sollten hier Wanzen und Läuse beseitigen. Zur Umsetzung der Zersetzungsmaßnahmen fertigte das MfS auch einen Zweitschlüssel für die Haustür, Fuchs’ Wohnungstür und seinen Briefkasten an. Daneben wurde die Wohnung vom gegenüberliegenden Fahrbahnrand demonstrativ überwacht sowie Telefonate zwischen Fuchs’ Anschluss in West-Berlin und Apparaten in der DDR regelmäßig abgehört. Dass hinter all dem die Staatssicherheit steckte, daran hatte Fuchs keinen Zweifel.9

Doch in West-Berlin wollte kaum jemand glauben, daß das MfS solchen Aufwand um den exilierten Oppositionellen betreiben würde10. So hatte etwa der Spiegel-Redakteur Ulrich Schwarz den Eindruck, Fuchs [hätte] sich regelrecht in seinen Verfolgungswahn hineingesteigert11. Fuchs – ein Stasi-Paranoiker? Dieses Gerücht ließ sich auch in andere Redaktionen und Institutionen streuen. Die Zersetzungsmaßnahme des MfS Diskreditierung des Rufes funktionierte erfolgreich: Hatte der Spiegel 1977 noch Fuchs’ Serie Du sollst zerbrechen über die „operative Psychologie“ des MfS publiziert, ging er nun auf Distanz. Reaktionen wie die von Schwarz musste Fuchs mehrfach erleben und bekam so zu spüren wie seine Kompetenz in Zweifel gezogen wurde. Später las er in seinen Akten, dass in der West-Berliner Zeit über 4012 IM auf ihn angesetzt waren.13

Immer wieder hinterließ das MfS auch auf subtile Weise versteckte Drohungen. So kam auf der geheimgehaltenen Telefonnummer ein Anruf, die Wagentüren ihres Autos ständen weit offen. Die Familie war sich jedoch sicher, sie hätten den Wagen abgeschlossen. Nichts fehlte, nur der Kindersitz der Tochter Lili war ausgebaut und stand auf dem Bürgersteig.14

Lilo Fuchs erzählt:

„Einmal in dieser Zeit […] kam er [Jürgen Fuchs] zum Auto, es war alles abgeschlossen, aber darin lag ein Pflasterstein. Die Scheiben waren unversehrt. Ich denke, auch das war ein Zeichen: Nehmt euch in Acht.“15

Eines der furchtbarsten Ereignisse für Lilo und Jürgen Fuchs war indes der unerklärliche Tod von Lilos Mutter Dorothea Uschkoreit 1982. Angeblich handelte es sich um einen Suizid, dessen Bearbeitung – was unüblich war – sofort die Staatssicherheit übernahm. Ihr Tod wurde nie wirklich aufgeklärt; der später übergebene Abschiedsbrief ist mit der Handschrift der Mutter nicht identisch. Fest steht, dass das MfS Dorothea Uschkoreit, die noch in der DDR lebte, in Vorladungen unter Druck gesetzt hatte. Als Schwiegermutter von Jürgen Fuchs sollte sie auf ihn einwirken, seine „politischen Angriffe“16 zu unterlassen. Am Vormittag des 22. Oktober 1982 wurde sie erneut vorgeladen und offenbar massiv bedrängt. Als ihr Mann sie nach der Arbeit fand, waren alle Gashähne aufgedreht und ihre Pulsadern geöffnet. Ein Manipulationsverdacht ist nicht auszuschließen.17

Das MfS schrieb indes:

„Aus den bisherigen Ermittlungsversuchen ist einzuschätzen, daß die Ursachen für den Selbstmord wesentlich in der massiven feindlichen Beeinflussung des F[uchs’] zu suchen sind.“18

Um dieser Auffassung mehr Nachdruck zu verleihen, standen im Januar 1983 unvermittelt zwei Mitarbeiter des MfS vor der Wohnungstür von Gisela Uschkoreit, der zweiten Tochter, und übergaben ihr das Messer, mit dem sich ihre Mutter angeblich die Pulsadern geöffnet hatte. Angst und Abscheu waren kalkuliert. Die Familie sollte gespalten und ihre Wut gegen Jürgen Fuchs gerichtet werden: Er sei schuld an der Tragödie.19

Kurz zuvor hatte das MfS den „operativen Kampf“ gegen Jürgen Fuchs in West-Berlin verschärft:

„Im Zeitraum von Ende August bis Ende September 1982 wurden in konzentrierter Form spezielle Maßnahmen mit dem Ziel realisiert, F[uchs] zu verunsichern und in seinem Handlungsspielraum zu beeinträchtigen. […] Die dazu durchgeführten Überprüfungen ergaben, daß sich F[uchs] angesichts der von den beauftragten Unternehmen veranlaßten Aktivitäten, der wiederholten Störungen und des massiven […] Eintreffens von Materialien unterschiedlichster Art belästigt fühlt und darüber verärgert ist. Bisher wurden seinerseits keine Bemerkungen bekannt, wonach er die eigentlichen Urheber für diese Belästigungen in Maßnahmen des MfS sieht.“20

Am 30. Oktober 1986 sah sich die Familie schließlich einer anderen Art von Bedrohung ausgesetzt: Unmittelbar vor ihrem Wohnhaus detonierten fünf von Hand gezündete Wurfgranaten im Kofferraum eines Pkw. Autoteile flogen durch die Luft; die Stichflamme der Explosion reichte bis zum dritten Stock. Das Feuer wurde gelöscht, der Täter jedoch nie ermittelt.21

Nach der Wende 1989 setzte sich Jürgen Fuchs vehement dafür ein, die abstrusen Machenschaften des MfS im vereinten Deutschland offen zu legen. Sein letzter, stark autobiographischer Roman „Magdalena“ von 1998 verleiht diesem Vorhaben noch einmal Ausdruck. Fuchs verstarb 1999 an einer seltenen Form von Blutkrebs, von der er bis zum Schluss überzeugt war, sie wäre nicht gottgewollt, sondern menschengemacht22 gewesen. Fuchs glaubte, vom MfS gezielt verstrahlt worden zu sein.23

„Ich schreibe an gegen Verbitterung und Enttäuschung, ich möchte nicht, daß Täter […] über die Spätfolgen der psychischen, sozialen und politischen „Zersetzung“ im Inneren der Betroffenen […] verheerend und bestimmend verankert bleiben. […] Denn in der Beschäftigung mit den Fakten und dem Erleben der Opfer wird auch deutlich, daß es Möglichkeiten gibt, dem geheimdienstlichen Zugriff zu widerstehen. Aus dem Nein zu Spitzeltätigkeit und Vertrauensbruch sowie dem Mut, den Verursachern von totalitären Strukturen entgegenzutreten, ergibt sich die heutige Chance, Diktatur zu überwinden.24

Weiterführende Literatur

  • Behnke, Klaus/Fuchs, Jürgen (Hg.): Zersetzung der Seele. Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi, Hamburg 1995. Bestellen bei Buchhandlung89 Bestellen bei Amazon
  • Fuchs, Jürgen: Gedächtnisprotokolle. Mit Liedern von Gerulf Pannach und einem Vorwort von Wolf Biermann, Hamburg 1977. Bestellen bei Amazon
  • Fuchs, Jürgen: Vernehmungsprotokolle. November ’76 bis September ’77, Hamburg 1978. Bestellen bei Buchhandlung89 Bestellen bei Amazon
  • Fuchs, Jürgen: Unter Nutzung der Angst. Die „leise Form“ des Terrors – Zersetzungsmaßnahmen des MfS (BF informiert Nr. 2), Berlin 1994.
  • Fuchs, Jürgen: Magdalena. MfS. Memfisblues. Stasi. Die Firma. VEB Horch & Gauck – ein Roman, Berlin 1998. Bestellen bei Amazon
  • Kuczynki, Ernest: Im Dialog mit der Wirklichkeit: Annäherungen zu Leben und Werk von Jürgen Fuchs, Halle (Saale) 2014. Bestellen bei Buchhandlung89 Bestellen bei Amazon
  • Pingel-Schliemann, Sandra: Zersetzen. Strategie einer Diktatur (Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs, Bd. 8), Berlin 22003. Bestellen bei Amazon
  • Scheer, Udo: Jürgen Fuchs. Ein literarischer Weg in die Opposition, Berlin 2007. Bestellen bei Buchhandlung89 Bestellen bei Amazon


Einzelnachweise

  1. Vgl. Scheer, Udo: Jürgen Fuchs. Ein literarischer Weg in die Opposition, Berlin 2007, S. 131 u. 181. Der vorliegende Artikel behandelt vorwiegend die Jahre nach 1977. Für einen Eindruck von Fuchs’ Wirken in der DDR und speziell in Jena sei insbesondere die genannte Biografie von Udo Scheer empfohlen. Außerdem empfehlenswert sind die von Jürgen Fuchs erschienenen Bücher „Gedächtnisprotokolle“ von 1977 und „Vernehmungsprotokolle“ von 1978, in denen er u. a. von seiner Zwangsimmatrikulation sowie seiner Haft in Hohenschönhausen berichtet. Eindrucksvoll zeigt der Autor hier auf, welchen staatlichen Repressalien er in der DDR unterlag und wie grausam die Haftbedingungen im MfS-Untersuchungsgefängnis waren.
  2. Fuchs, Jürgen: Vernehmungsprotokolle. November ’76 bis September ’77, Hamburg 1978, S. 124.
  3. Vgl. Walther, Joachim: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1999, S. 428. Ein ZOV mit entsprechenden Teilvorgängen wurde vom MfS eröffnet, wenn für dieses eine besondere „Gesellschaftsgefährlichkeit feindlicher Stellen und Kräfte“ gegeben war und die zu bearbeitende Person oder Gruppe die zentralisierte Zusammenarbeit mehrerer Diensteinheiten erforderte. (Vgl. ebd., S. 430.)
  4. Vgl. Scheer: Fuchs, S. 249, 252 u. 254.
  5. Lilo Fuchs im Gespräch mit Udo Scheer am 3. November 2006. Zit. nach: Scheer: Fuchs, S. 254.
  6. Vgl. Fuchs, Jürgen: Unter Nutzung der Angst. Die „leise Form“ des Terrors – Zersetzungsmaßnahmen des MfS (BF informiert Nr. 2), Berlin 1994, S. 39.
  7. Vgl. Scheer: Fuchs, S. 345.
  8. Vgl. Fuchs: Nutzung, S. 39.
  9. Vgl. Scheer: Fuchs, S. 344 u. 346.
  10. Gieseke, Jens: Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi 1945–1990, erweiterte und aktua-lisierte Neuauflage, München 2006, S. 197.
  11. Treffbericht des IMB „Herold“, der den Spiegel-Redakteur Ulrich Schwarz abgeschöpft hatte. Zit. nach: Fuchs, Jürgen: Magdalena. MfS. Memfisblues. Stasi. Die Firma. VEB Horch & Gauck – ein Roman, Berlin 1998, S. 145.
  12. Man muss jedoch von einer höheren Zahl ausgehen. Von den 25 Bänden, die das MfS über Fuchs während seiner „operativen Bearbeitung“ in West-Berlin anlegte, sind nur drei vollständig erhalten.
  13. Vgl. Scheer: Fuchs, S. 184 u. 347.
  14. Vgl. Scheer: Fuchs, S. 352.
  15. Lilo Fuchs im Gespräch mit Udo Scheer am 3. November 2006. Zit. nach: Scheer: Fuchs, S. 352.
  16. Jürgen Fuchs unterstützte etwa die unabhängige DDR-Friedensbewegung. Für nähere Informationen zu Fuchs’ Aktivitäten in West-Berlin siehe Scheer: Fuchs, S. 182–254.
  17. Vgl. Scheer: Fuchs, S. 355–357.
  18. Zit. nach: Fuchs: Nutzung, S. 38.
  19. Vgl. Scheer: Fuchs, S. 357f.
  20. Zit. nach: Fuchs: Nutzung, S. 39.
  21. Vgl. Scheer: Jürgen, S. 344 u. 348.
  22. Matthias Storck auf der Beerdigung von Jürgen Fuchs im Mai 1999. Zit. nach: Scheer: Fuchs, S. 370.
  23. Vgl. Scheer: Fuchs, S. 362 u. 368.
  24. Fuchs, Jürgen: Bearbeiten, dirigieren, zuspitzen. Die „leisen“ Methoden des MfS, in: Behnke, Klaus/Fuchs, Jürgen (Hg.): Zersetzung der Seele. Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi, Hamburg 1995, S. 44–83, hier S. 82.

1 Kommentar

  1. Sehr geehrte Damen und Herren,

    nun schreiben wir das Jahr 2017 und es hat sich nicht viel geändert, d.h. die Staatssicherheit gibt es noch und auch die Methoden sind geblieben.

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