Der nachfolgende Beitrag erschienen zuvor in der Zeitschrift „Der Stacheldraht“, Ausgabe 3/2013. Der Autor ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen 1945-1950 e. V..
Der Ende Juli 2011 neu gewählte Vorstand der AG Lager Sachsenhausen 1945-1950 e. V., unter seinem Vorsitzenden Joachim Krüger (MdA), versucht nicht, mit der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten vergangene Konflikte noch einmal auszutragen. Es wird von uns vielmehr ein Minimalkonsens in vier zentralen Fragen mit vernünftigen, für alle Seiten zumutbaren, künftig tragfähigen Lösungen angestrebt. Es sind wahrlich bescheidene Forderungen und Wünsche, die wir im Namen der überlebenden Häftlinge des sowjetischen Speziallagers Nr. 7/Nr. 1, aber vor allem auch im Andenken an die mindestens 12.000 Toten erheben.
Der erste und wichtigste Problemkreis betrifft den immer wieder von Zeitzeugen (ehemaligen Häftlingen) hartnäckig und auch glaubwürdig vorgebrachten Verdacht, dass es auf dem Gelände des ehemaligen KZ/Speziallagers weitere Leichenfelder aus der Zeit 1945 – 1950 geben soll. Glaubwürdig erscheinen diese Aussagen vor allem aus drei Gründen: Erstens sind die bisher namentlich im Totenbuch erfassten ca. 12.000 Toten wahrscheinlich nicht alle verstorbenen Opfer des NKWD-Lagers. Der Zeitzeuge Helmut Klemke war jahrelang Helfer der Lagerärzte beim Sezieren der Leichen und hatte wie kaum ein anderer Einblick in die damaligen Abläufe. In seinem Buch „Geiseln der Rache” hat er diese Zusammenhänge ausführlich beschrieben und auf Seite 173 Massengräber nördlich der Gärtnerei, Gießerei und des Industriehofes eingezeichnet. Laut Klemke hat es in dem von ihm beschriebenen Bereich nach 1950 umfangreiche Aufschüttungen gegeben. Zweitens fällt auf, dass die Aussagen der Zeitzeugen sich alle auf dieselbe Verdachtsfläche (beginnend südwestlich des heutigen Kommandantenhofes hinter dem heutigen Museumsbau) beziehen. Drittens erscheinen diese Aussagen auch nach sechs Jahrzehnten glaubwürdig, weil sich solche existentiellen Erfahrungen unlöschbar tief ins Gedächtnis einprägen und die Zeitzeugen über Jahre zentrale Beobachtungspositionen hatten (z. B. im westlichsten der „Schuschnigg-Häuser“).
Am 16. März 2013 fand in der Gedenkstätte auf Wunsch unserer AG eine stark besuchte und auch von den Medien beachtete Veranstaltung statt, auf der der wissenschaftliche Mitarbeiter der Stiftung, Dr. Enrico Heitzer, einen fundierten Vortrag über die Anfang der 90er Jahre durchgeführten Grabungen und die bis heute gesicherten Ergebnisse hielt. Besonders aufschlussreich war für mich eine Information von Dr. Heitzer, den DDR-Behörden sei die Existenz der Leichenfelder bekannt gewesen und trotzdem seien diese Flächen militärisch genutzt worden, z. B. als Sturmbahn der NVA. Ich selbst hatte als Wehrpflichtiger 1969/70 unfreiwillig Gelegenheit, auf dieser Sturmbahn trainiert zu werden. Man muss zunächst einmal anerkennen, dass Dr. Heitzer sich dieser Problematik und auch der anschließenden (teilweise emotionalen) Diskussion öffentlich stellte. Gleichwohl erwartet die AG Lager Sachsenhausen 1945 – 1950 e. V. von der Stiftung, dass diesen ernst zu nehmenden (und in sich stimmigen) Aussagen von ehemaligen Häftlingen nachgegangen wird und das Schicksal der Opfer auch jetzt noch lückenlos aufgeklärt wird.
Das zweite wichtige Problem ist die Frage des individuellen Gedenkens an die toten Opfer (auch die Überlebenden waren natürlich Opfer). Hier ist mit der Fertigstellung des Totenbuches (das mit neuen Erkenntnissen auch korrigiert bzw. fortgeschrieben werden kann) von der Stiftung ein wichtiger Schritt erfolgt. Warum es nicht möglich war, auf der heutigen Gedenkstätte Kommandantenhof ein namentliches Gedenken aller bekannten Toten zu ermöglichen, soll hier nicht erneut untersucht werden. Die von der Stiftung geschaffene Möglichkeit, durch Anbringen persönlicher Gedenktafeln außerhalb des Zaunes Angehörigen der Opfer ein individuelles Gedenken zu gestatten, wird von der AG als ergänzende Maßnahme akzeptiert und begrüßt. Ob nun gegenwärtig 24 oder am Ende 100 Gedenktafeln dort angebracht werden – es wird immer nur ein Bruchteil der bis jetzt namentlich erfassten ca. 12.000 Toten sein. Deshalb und um aus den vergangenen Konflikten herauszukommen, hat der Vorstand der AG einen konkreten Vorschlag gemacht. Da laut Aussagen von Dr. Heitzer eine namentliche Zuordnung der 12.000 Toten auf die drei bisher bekannten Leichenfelder (Schmachtenhagener Forst, An der Düne, Kommandantenhof) ohnehin nicht möglich ist, sollte auf der der Zone 2 zugewandten Seite des Lagermuseums eine wetterfeste Namenstafel aller Toten angebracht werden. Dies würde den Überlebenden, aber auch den Angehörigen der Toten viel bedeuten. Frau Dr. Greiner, die Tochter eines verstorbenen Häftlings des Speziallagers Sachsenhausen, schrieb mir dazu am 31. Dezember 2012:Nach wie vor ist für mich die Anonymität der auf dem Kommandantenhof und auch auf den beiden anderen Friedhöfen in Massengräbern verscharrten Opfer – auch nach 60 Jahren – eine unerträgliche Last. Ich denke, diesbezüglich bin ich nicht allein. Sollten Sie eine Möglichkeit sehen, die Namen der im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen Umgekommenen – ähnlich dem Vorgehen des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge mit in Gedenkmauern oder Stelen eingemeißelten Namen – zu erhalten, könnte man den Opfern wenigstens ihre Namen und damit ihre Würde zurückgeben.Dem ist nichts hinzuzufügen.
Das dritte zentrale Problem ist die Wiederherstellung des Tores zur Zone 2. Wiederherstellung meint nicht Durchgehbarkeit. Wir akzeptieren die Besucherführung zur Zone 2 über das Museum und das Leichenfeld am ehemaligen Kommandantenhof. Das Tor zur Zone 2 ist der zentrale Punkt des NKWD-Speziallagers mit einem hohen Symbolgehalt für die ehemaligen Häftlinge. Sachsenhausen unterscheidet sich insbesondere durch diese Zone 2 von den anderen Lagern des NKWD. Denn hier ist ab Mitte 1946 ein Hochsicherheitslager für die willkürlich Verurteilten sowjetischer Militärtribunale errichtet worden, in dem die Gefangenen besonders grausam behandelt wurden. Der ehemalige Durchgang zur Zone 2 sollte der historischen Wahrheit entsprechend durch ein Gittertor in den authentischen Abmessungen – an der Außenseite existieren noch die originalen Pfeilerbauten – wiederhergestellt werden. Natürlich müssten die Besucher durch eine entsprechende Kommentierung (Tafel, wie an anderen Stellen auch) die geschichtliche Bedeutung dieser Stelle erklärt bekommen. Im Innenbereich existiert zur Zeit nur ein Gedenkstein, aber keine Erklärung der örtlichen Zusammenhänge. Die damalige Brandenburger Wissenschaftsministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin (heutige Bundesministerin), Prof. Dr. Johanna Wanka, hatte gegen vielfältige Widerstände einen Kabinettsbeschluss erwirkt, mit dem die Gedenkstättenstiftung 950.000 Euro für die Zugänglichmachung der Zone 2 und die Überarbeitung einer Ausstellung in Brandenburg-Görden erhalten sollte. Von den der Gedenkstätte im Herbst 2009 gewährten ca. 811.000 Euro sind nach unserer Kenntnis 316.530 Euro für die Zugänglichmachung der Zone 2 verwendet worden. Das jetzige Wegesystem in der ehemaligen Zone 2 entspricht nicht der historischen Wahrheit und ist nicht denkmalgerecht. Es erfolgte auch keine Darstellung der Umrisse der inzwischen abgerissenen Baracken wie im Inneren des SS-Lagers. Anzumerken ist, dass die Zone 2 inzwischen vollständig und massiv eingezäunt wurde. In den letzten 60 Jahren entstand ein dichter Baum- und Strauchbewuchs, der zur Zeit des SS– bzw. Sowjetlagers nicht existierte. Der heutige friedlich-idyllisch naturnahe Anblick lässt die einstmalige öde Trostlosigkeit des Lagers nicht mehr erahnen. Gleichwohl verlangt unsere AG keine generelle Rodung, sondern nur eine Schneise hinter dem einstigen Zugang zur Zone 2.
Gegen den dringenden Wunsch ehemaliger Häftlinge nach Öffnung der jetzigen Mauer beim ehemaligen Durchgang werden vor allem zwei Argumente vorgebracht. Erstens denkmal- bzw. baurechtliche Probleme, die an dieser Stelle nicht erschöpfend behandelt werden können. Generell kann ich nach 20-jähriger dienstlicher Erfahrung als stellvertretender Landrat hierzu sagen: Wo ein politischer Wille ist, findet sich auch ein juristisch sauberer Weg. Das zweite Argument lautet, dieser Durchgang habe zur NS-Zeit nicht bestanden und sei den Opfern des SS–KZ nicht zuzumuten. Nach dieser Logik müsste man als erstes den jetzigen Obelisken und das davorstehende verlogene Sowjetdenkmal abreißen, denn auch diese Baulichkeiten wurden nach 1945 errichtet. Um nicht falsch verstanden zu werden: Es war nicht die Schuld der Sowjetsoldaten, dass sie uns 1945 keine Freiheit brachten, denn sie waren ja selbst nicht frei, sondern gefangen im stalinistischen Terrorsystem. Die jahrelange unmenschliche und qualvolle Isolationsfolter von 60.000 Menschen unterschiedlichster Herkunft, darunter auch viele Ausländer (Russen), Jugendliche, ja Kinder, Gegner der Zwangssowjetisierung, nominelle Nationalsozialisten (meistens niedere Funktionsträger) und nicht wenige ehemalige Verfolgte des Nazi-Regimes (z. B. Sozialdemokraten und sogar jüdische Opfer des NS-Regimes) überließ Tausende dem Hungertod. Dies aber ist durch nichts zu rechtfertigen. Schon die Verhaftungen erfolgten völlig willkürlich oft infolge von Denunziation oder rein zufällig. Kein einziger der 60.000 Gefangenen des NKWD-Lagers in der Zone 2 erhielt ein rechtsstaatliches Verfahren. Der verstorbene ehemalige Leiter des jüdischen Dokumentationszentrums in Wien, Simon Wiesenthal, hat einmal gesagt: Wenn ich an einen Menschen denke, der in einem sowjetischen Lager auf der Pritsche liegt, dann ist er in diesem Augenblick mein Lagerkamerad, und alles was man ihm antut, tut man mir an.
Den Opfern des SS-Terrors wird nichts weggenommen und die getrennte Erinnerungskultur nicht beeinträchtigt, wenn an einer Außenwand des NS–KZ (also nicht im KZ) ein Durchbruch entsprechend der historischen Wahrheit erfolgt.
Das vierte Problem betrifft die jetzige Museumsausstellung des NKWD-Speziallagers Sachsenhausen. Da dieser Fragenkomplex mit der Gedenkstättenstiftung noch nicht ausführlich kommuniziert wurde und die Mitglieder unseres Verbandes noch an konkreten Vorschlägen arbeiten, möchte ich es bei einigen Stichpunkten belassen. Neben vielen technischen Unzulänglichkeiten und Mängeln der Ausstellung fällt auf: Es wird in einer monotonen Didaktik auf eine wirkliche geschichtliche Einordnung des Phänomens der NKWD-Lager in Deutschland verzichtet. Denn diese waren nur ein kleiner Bestandteil des gigantischen GULag-Systems in allen Ländern des Sowjetimperiums. Die Errichtung von NKWD-Lagern ausgerechnet in ehemaligen Nazi-KZ war eben keine legitime Abwehrmaßnahme der sowjetischen Besatzungsmacht auf Grund alliierter Beschlüsse zur Aufarbeitung der NS-Diktatur. Es ging vielmehr um die Implantierung des Sowjetsystems gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung aller Länder im sowjetischen Volksgefängnis nach der Aufteilung von Jalta. Entscheidend war nicht, wie man zu Hitler gestanden hatte, sondern wie man zu Stalin stand. Ehemalige Nazis, die nun mit den Kommunisten paktierten, waren „gute Nazis“ (hatten sich geändert), und die Nazis im Westen waren eben die alten geblieben. Primitiver geht es kaum. Es fehlen in der jetzigen Museumsausstellung auch praktische Darstellungen über die Lebensverhältnisse der Häftlinge, z. B. die totale Überbelegung, die Isolation von der Außenwelt, medizinische Unterversorgung, eine gegenständliche Präsentation der täglichen Essensrationen in den einzelnen Phasen der Lagerzeit und die damit korrelierende Sterberate. Die in den 90er Jahren erfolgten Rehabilitierungen in der UdSSR bzw. Russland werden nicht ausreichend dargestellt. Es ließe sich noch vieles zum gegenwärtigen Museum sagen, weniger zu dem, was ausgestellt wird, als zu dem, was fehlt!
Die regelmäßigen Besprechungen unseres Vorstandes mit dem Direktor der Gedenkstättenstiftung, Prof. Dr. Günter Morsch, verlaufen seit geraumer Zeit von beiden Seiten im Stil höflich und auch sachlich. Aber das allein genügt nicht, denn wir unterhalten uns nicht über die schönen Künste, sondern wollen noch zu Lebzeiten der letzten überlebenden Häftlinge für ihre wahrlich bescheidenen Anliegen endlich zu Lösungen mit dem Stiftungsvorstand bzw. dem Stiftungsrat kommen. Es zählt am Ende allein das Ergebnis.
Weiterführende Literatur
- Agde, Günter: Sachsenhausen bei Berlin, Berlin 1994.
- Beer, Harald: Schreien hilft Dir nicht… – Ein Augenzeugenbericht mit Dokumentenanhang, Leipzig 2011.
- Fippel, Günter: Demokratische Gegner und Willküropfer von Besatzungsmacht und SED in Sachsenhausen (1946 bis 1950) – Das sowjetische Speziallager Sachsenhausen Teil des Stalinschen Lagerimperiums, Leipzig 2008.
- Haustein, Petra: Geschichte im Dissens: Die Auseinandersetzungen um die Gedenkstätte Sachsenhausen nach dem Ende der DDR, Leipzig 2006.
- Klemke, Helmut: Geiseln der Rache: Zehn Jahre in mitteldeutschen Todeslagern. Erlebnis und Bericht, Berg 1995.
- Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten/Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen (Hg.): Totenbuch sowjetisches Speziallager Nr. 7/Nr. 1 in Weesow und Sachsenhausen 1945-1950, Berlin 2010.
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